#rp15-Speaker: Ulrike Guérot

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Ulrike Guérot; photo credit: Ulrike Guérot

Die Publizistin Ulrike Guérot ist eine leidenschaftliche Verfechterin der europäischen Republik. Parteien- und debattenübergreifend verfasst sie Essays, Analysen und Kommentare zum Thema Europa und europäische Integration. Erst vor kurzem gründete die promovierte Politikwissenschaftlerin das European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin. Damit will sie weg von der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten und Europa und stattdessen die Vereinigung der Bürger in den Mittelpunkt der europäischen Idee stellen. Im Interview erklärt sie, wie das demokratische Europa zusammen wachsen soll und warum Partizipation gar nicht der beste Weg ist.

Was ist das European Democracy Lab?
Das European Democracy Lab habe ich zusammen mit Victoria Kupsch gegründet, die – und das ist hier wichtig – aus der Erasmus-Generation und damit halb so alt wie ich ist. Wir wollen uns vor allem auch mit der Generationendynamik in der Europadiskussion beschäftigen: wer denkt heute wie über Europa? Es gibt heute eine neue Generation, die ganz anders über Europa denkt; junge Leute, die den Grundsatz der politischen und sozialen Gleichheit aller europäischen Bürger längst akzeptiert haben, und die darauf warten, dass Europa diesem endlich entspricht. Unser Kernprojekt ist momentan die Befragung nationaler Abgeordneter in sechs Eurostaaten zur Zukunft und Ausgestaltung der europäischen Demokratie. Der Bericht soll Anfang 2016 vorliegen. [Anm. der Red.: Den exlusiven Interims-Bericht haben wir für euch am Seitenende zum Download!]

Trotz dieser neuen Generation, die Europa positiv gegenüber steht, befinden wir uns in der viel diskutierten Krise. Warum?
Es wird häufig übersehen, dass es eigentlich um eine systemische Krise geht, die alle Euroländer und nicht nur Griechenland betrifft: Wirtschaft und Demokratie, Markt und Staat wurden im Maastrichter Vertrag ("ever closer union") 1992 entkoppelt und müssen jetzt auf europäischer Ebene zusammengeführt werden. Ziel unseres Lab ist es, genau diese systemische Krise zu thematisieren und sichtbar zu machen. Die Lösung der Krise könnte in der Schaffung einer transnationalen europäischen Demokratie liegen, die auf dem de facto bereits konstitutionalisierten Gleichheitsgrundsatz aller europäischen BürgerInnen beruht und in der die europäische Institutionen zu einer Demokratie weiter entwickelt werden müssen, die dem Montesquieu’schen Grundsatz der Gewaltenteilung genügt.

Welche Rolle hätte das Internet bei dieser transnationalen europäischen Demokratie?
Das Dreieck Europa-Demokratie-Internet ist in der Tat ein sehr problematisches und schwer zu fassen. Obgleich es einiges an Forschung darüber gibt, wissen wir noch nicht, wie sich das Internet letztlich auf die Demokratie auswirken wirkt: erlaubt es etwa Populisten, sich transnational besser zu organisieren, oder könnte es demnächst europaweit ein europäisches Referendum ermöglichen? Wir sehen von Ägypten über die Ukraine bis Hongkong, dass das Internet die schnelle politische Mobilisierung ermöglicht; wir sehen aber auch, dass die Piraten es nicht geschafft haben, uns alle auf "liquid democracy“ zu tunen.

Aber fördert nicht gerade die digitale Vernetzung eine Partizipation und damit auch Demokratie?
Partizipation ist ein problematischer Begriff: er ist derzeit sehr "hipp“, alle reden davon, die EU-Kommission hat umfangreiche Programme aufgelegt ("Citizens Europe“), um die Partizipation in Europa und die Bürgernähe Europas zu befördern. Aber das gelingt nur sehr bedingt. Meines Erachtens ist der Grund dafür, dass Partizipation ein nur formaler Begriff ist, der den Kern von Demokratie indes dann verfehlt, wenn er zur "Post-Demokratie“ verkommt, wie es Colin Crouch ("Du kannst zwar wählen, aber du hast keine Wahl“) beschreibt. Letzteres ist genau das Problem der EU, zum Beispiel wenn eine Regierung wie in Griechenland Steine in den Weg gelegt bekommt, eine politische Umsteuerung vorzunehmen, für die sie eigentlich mandatiert ist. Der französische Soziologe Pierre Rosanvallon hat einmal geschrieben: "Wir denken, Demokratie heißt Partizipation; aber eigentlich geht es bei der Demokratie um die Gestaltung sozialer Körper“. Die digitale Vernetzung ist sehr gut, aber nicht die Antwort auf oder die Lösung der sozialen Frage in Europa. Partizipation genügt hier nicht: es geht um die Gestaltung eines auch sozial- und steuerpolitisch einheitlichen Ordnungsrahmens für die Eurozone, die politisch-institutionell neu aufgestellt werden muss.

Was verbindest Du mit Finding Europe?
Finding Europe, ja das ist heute die Frage – eigentlich schon seit dem Mittelalter. Welche Projektion von gemeinsamer Demokratie haben wir, welche kulturelle und historische Bedingtheit hat Demokratie, wo sind hier unsere Schnittmengen?  Die Frage muss man auch auf die Wirtschaftspolitik ausdehnen, denn einer Volkswirtschaft liegt eine Kultur zu Grunde und nicht nur eine makro-ökonomische Bilanzierung. Wir müssen uns jetzt in Euroland darüber verständigen – und mögliche Kompromisse finden. Dabei kann es nicht darum gehen, den anderen Eurostaaten das sozio-kulturelle Modell Deutschlands aufzudrücken: Europa finden hieße hier, Schnittmengen auszuloten.

Worin könnte eine solche Schnittmenge Deiner Meinung nach bestehen?
Die politische Idee der Republik ist die tragende Idee der europäischen Geistesgeschichte – vielleicht könnte man sich das für die kulturelle Schnittmenge eines neugedachten demokratischen Systems in Europa zu Eigen machen. Welche strategischen Güter wollen wir in Europa und welche wollen wir schützen? Welchen "contrat social“, welches Gesellschaftsmodell, welches Verhältnis zwischen Markt und Staat für die Eurozone? Das sind jetzt die Fragen, die post-Eurokrise auf den Tisch müssen. Wenn wir Antworten finden, hätten wir ein Stückchen Europa mehr gefunden… im Sinne der politischen und sozialen Gleichheit aller Bewohner von Euroland: es geht jetzt in Europa nicht mehr darum, Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen. Darum schlagen wir vor, die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in die Idee einer Europäischen Republik umzuwandeln.

ulrikeguerot.eu/
@ulrikeguerot

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